Das macht mich stark

Wird einem Kind Psychomotorik empfohlen, schrecken die Eltern auf. Dabei ist diese Therapie alles andere als „Psycho“. Luca jedenfalls gefällts.

„Achtung, fertig, los!“, ruft Luca aus der bunt gestreiften Hängematte. Mit Schwung saust diese nach oben. „Höher, noch höher! Ich will bis zur Decke hinauffliegen!“ Mal quietscht er vor Vergnügen, mal lacht er lauthals.

Der Sechsjährige befindet sich nicht etwa auf dem Spielplatz, sondern in einer Psychomotorikstunde bei Christina Buri in Zug. Die Hängematte hängt mitten in einem hellen Raum, der nach Sport und Spass aussieht. Er ist voll mit bunten Materialien: Bälle, Balancierbretter, Seile und Matten in allen Grössen. Auf einer Seite hängen Sprossen- und Kletterwand, und an der Decke sind verschiedenste Tücher und Schaukeln befestigt.

Christina Buri stoppt die Hängematte sanft und bittet Luca, auszusteigen. Das Schaukeln hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er torkelt ein bisschen, schmeißt sich dann auf eine dicke Matte und bleibt schnaufend liegen.

„Bewegung ist zentral“, meint Christina Buri, „sie unterstützt die Kinder, fröhlich und ausgeglichen zu sein.” Doch heutzutage bewegen wir uns alle zu wenig. Immer seltener spielen die Kinder draußen. Medienkonsum, vollgestopfte Terminkalender aber auch zu wenig Spiel- und Bewegungsräume führen dazu, dass die Kinder träger werden.

Nun geht die Stunde mit einer Wahrnehmungsübung weiter. Luca rutscht unruhig auf der Holzbank vor dem großen Spiegel hin und her. Er soll sich im Spiegel ansehen. „Schau dir deine Augen mal ganz genau an, das Schwarze deiner Pupillen. Wenn du ganz lange schaust, kannst du erkennen, wie es dir heute geht.” Luca guckt kurz in seine Augen, betrachtet aber im nächsten Moment seine Zahnlücken. „Du hast ja schon viele neue Zähne. Nun versuchst du aber wieder, deine Augen anzusehen“, holt ihn Christina Buri zurück. Luca legt den Kopf schief, schnalzt mit der Zunge und sieht seinem Spiegelbild in die hellen Augen.

Seinen eigenen Körper wahrzunehmen, ist für Luca ganz schön schwierig. Seit fünf Monaten besucht er einmal pro Woche eine Psychomotorikstunde bei Christina Buri. „Wichtig ist, dass Luca hier in einem geschützten Rahmen seine Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten ausbauen und positive Erfahrungen sammeln kann. Zudem soll er lernen, seine eigenen Grenzen zu spüren und sich dadurch besser einzuschätzen. Körpergefühl und Psyche sind eng miteinander verzahnt.“

Als Luca zum ersten Mal zu Frau Buri kam, konnte nicht gut klettern und balancieren. Bewusst wich er Aktivitäten aus, die viel Gleichgewicht und Muskelspannung erfordern. Zudem hatte er vor einiger Zeit begonnen, sich in Stresssituationen in die Hand zu beißen. Kinder, die in ihrer Entwicklung – auf welche Art auch immer – eingeschränkt sind, erleben oft Misserfolge. Dies setzt sie unter Stress und sie werden unsicher. „Dies ist die Art, wie sich Luca selbst gut wahrnimmt“, sagt Christina Buri. Sie ist sicher, dass er damit aufhören wird. „Wenn er sich besser spüren kann, wird er den körperlichen Reiz des Beißens nicht mehr brauchen.“

„Wir sind ganz schön erschrocken, als uns die Kindergärtnerin mitteilte, dass Luca zur Psychomotorik soll“, erzählt Lucas Mutter. So wie Lucas Eltern geht es wohl den meisten betroffenen Eltern. Das Wort „Psycho“ schreckt erst einmal ab, und auch Therapie klingt sehr nach Krankheit. Mittlerweile ist sie von der Therapie ganz begeistert. Sie sieht, dass Luca deutlich schneller und sicherer klettern kann. Auch Luca ist glücklich. Manchmal kann er kaum bis zur nächsten Stunde warten. „Es ist so cool. Wir spielen, klettern und bauen. Doch am allerliebsten schaukle ich bis zur Decke hoch. Dann bin ich ganz stark.“

Die Stunde geht weiter. Luca sitzt auf einem roten Würfel und hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er soll mit seinen Füßen ertasten, ob sich die vor ihm liegenden Säckchen rau oder fein anfühlen. Angestrengt rubbelt der Sechsjährige mit seinen Füssen über den Stoff. Er runzelt seine Stirn. Es ist gar nicht so einfach, mit den Füssen zu fühlen. Doch dann klappt es, und er darf die Säckchen wegräumen. Geschickt krallt er seine Zehen um einen Sack und trägt ihn bis zur Kiste.

Zum Schluss jeder Stunde darf Luca frei spielen. „Jedes Kind hat sein eigenes Spiel – oft Rollen- oder Konstruktionsspiele, die sich über Wochen weiterentwickeln. Das Kind spiegelt sich im Selbstgebauten und in seinen real werdenden Ideen und wächst innerlich daran“, sagt Christina Buri. Luca bestimmt die Geschichte. Christina Buri hilft nur, falls es notwendig ist. Geschickt integriert sie laufend Bewegungsabläufe und Sinnesreize in Lucas Spielideen und fördert damit auf spielerische Art und Weise seine Wahrnehmung und Motorik.

Luca baut sein Traumhaus. Auf vier farbigen Matten hat Luca Bauelemente aus Schaumstoff aufgestapelt. Immer wieder klettert er aus seinem Haus und holt weitere Teile. Christina Buri lässt ihn die schweren Teile schieben, damit seine Rumpfmuskulatur gestärkt wird. Er überlegt und baut so lange um, bis er plötzlich fröhlich in die Hände klatscht. „Mein Haus ist fertig!” Christina Buri regt ihn an, Kissen und Decken zu holen, damit er es im Haus gemütlich hat. Sofort saust Luca los. Doch er kommt statt mit Kissen mit einer Malerrolle zurück. Vorsichtig rollt er über die Aussenwände und summt dabei fröhlich. „Mit welcher Farbe malst du?“, will Christina Buri wissen. „Alle Farben“, lacht Luca sie an.

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