DIE JAPANSCHWEIZERIN

Christine Junod-Merz strebte ihr Leben lang nach Perfektion, zielgerichtet und ohne viele Worte. Im Spannungsfeld zwischen der japanischen und der Schweizer Kultur hat sie ihre eigene Lebensphilosophie gefunden.

„Als Kind war ich introvertiert, doch im Tanz fand ich meine eigene Ausdrucksweise ohne zu sprechen“, sagt Christine. Mit einem Lächeln auf den Lippen bereitet sie einen Sencha-Tee zu. Die 55-jährige bewegt sich geschmeidig und elegant, gießt das dampfende Wasser in einen Tonkrug. Sie und ihr Mann wohnen im Dachgeschoss eines ehrwürdigen Hauses mit bester Aussicht auf die Stadt Zürich.

Die weißen Stuckdecken reflektieren die Sonne und tauchen das große Wohnzimmer in ein gedämpftes Licht. Im Raum stehen moderne knallbunte Plastiken im 70er Jahre Stil, modelliert von ihre Schwiegermutter, im Kontrast dazu viele japanischen Kunstwerke. Zürich ist für Christine ein Ankerpunkt: hier wurde sie als jüngstes Kind einer gutbürgerlichen Familie geboren, hier ist aufgewachsen und hierhin ist sie nach manchem Auslandaufenthalt immer gerne zurückgekehrt.

„Nein, keiner in meiner Familie interessierte sich besonders für Musik oder Kultur“ überlegt Christine. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn die in sich gekehrte Christine von ihrer Mutter nicht ins Ballett geschickt worden wäre. Mehr Selbstbewusstsein sollte sie bekommen, und das bekam sie auch. „Die Art und Weise, wie man sich ohne Worte ausdrücken kann, fand ich faszinierend“. Sie übte bis zur Perfektion und wusste schon bald, dass sie ihre Leidenschaft auch zum Beruf machen wollte. Nach ihrer Ausbildung am Opernhaus Zürich lernte sie bei Marika Besobrasova, einer der berühmtesten Ballettpädagoginnen in Monaco.

Ihr schwarzes halblanges Haar ist streng nach hinten frisiert. Sie wirkt in ihrer engen schwarzen Hose und ihrem schwarzen Kimono sehr grazil. Auch nach längerem Hinsehen ist man sich nicht ganz sicher, ob Christine japanische Wurzeln hat. Ihre leicht mandelförmigen Augen blitzen verschmitzt, als sie erzählt, dass man sie schon als Kind für eine Japanerin hielt.

19-jährig erlebte Christine in zweierlei Hinsicht einen Umbruch. Ihr Vater starb und sie musste nach Zürich zu ihrer Mutter zurückkehren. Aber auch gedanklich brach Christine mit dem Bisherigen. Plötzlich kam ihr das klassische Ballett zu fremdgesteuert vor. „Es gab nur Disziplin und Drill, ich wollte selbständig denken, meine Persönlichkeit entfalten“. Sie wendete sich vom klassischen Tanz ab und begann eine Ausbildung in modernem Tanz. Zeitgleich startete sie bei ihrem zukünftigen Mann eine Ausbildung zur Grafikerin. „Nur vom Tanzen konnte man nicht leben“, meint Christine, die heute gemeinsam mit Christoph eine Grafikdesign-Firma betreibt.

Die ersten Jahre als moderne Tänzerin in der Schweiz waren hart. Sie war Teil einer kleinen Truppe, die um alles kämpfen musste – Proberäume, Budgets und Anerkennung. Mit 24 ging sie nach New York. „Ich bin ein Mensch, der gerne in die Tiefe erfasst – ich wollte mehr“, meint Christine mit einem zaghaften Lächeln. Sie lehnt sich im weißen Stoffsofa zurück und kämmt sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

Das Training in New York war deutlich härter als in der Schweiz, und brachte sie bis ans Limit. Es gab soviel Neues zu entdecken, und die harte Konkurrenz trieb sie zu Höchstleistungen an. Doch schon nach einem Jahr nahm ihr Aufenthalt ein jähes Ende, als viele ihrer Tanzpartnerinnen und Tanzpartner, die an AIDS erkrankt waren, durch eine Grippewelle starben.

Zurück in Zürich musste Christine diesen Schock überwinden und erst einmal zu sich selbst finden. Bald schon begab sie sich wieder aufs Tanzparkett. Nach und nach inszenierte sie eigene Choreographien. Sie probierte viel Neues aus und schuf auch sehr gewagte Stücke. Die Reduktion auf das Wesentliche und der perfekte nonverbale Ausdruck waren ihr besonders wichtig.

„Nach Japan kam ich durch einen Zufall“, erzählt Christine. In Kameoka wurde ein Seminar durchgeführt, welches Nichtjapanern die japanische Kultur präsentierte. Christine bewarb sich und konnte 1990 für sechs Wochen nach Japan reisen. Hier tauchte sie in das alte Japan ein und lernte in traditionelle Kleider gehüllt klassische Teezeremonie, Nõ-Theater, Kalligraphie und Schwertkampf. Die Zeit war intensiv und für Christine wegweisend. „Ich kann es nicht richtig erklären, aber ich habe mich gleich wie zu Hause gefühlt. Japaner haben eine ganz andere Art von Wertschätzung und Respekt“. Sie war fasziniert davon, wie in der japanischen Kultur alles auf das Wesentliche reduziert ist, und man ohne Worte soviel aussagen kann. Beflügelt von ihren Erlebnissen beginnt sie bei Soyu Yumi Mukai in Zürich, die klassische Teezeremonie zu lernen.

2008 scheiden sich ihre Wege – Christine will tiefer eintauchen und zusätzlich Zazen, eine japanische Meditationstechnik, lernen. Sie beginnt eine Ausbildung bei Nojiri Sensei. Ihre neue Meisterin ist äußerst streng und praktiziert die Teezeremonie noch traditioneller als in Japan.

Seit 2009 hat Christine die Erlaubnis, Teezeremonie zu unterrichten. Sie, als Nichtjapanerin, gibt nun die japanische Kultur an ihre Gäste in ihrem eigenen Teeraum weiter und verbindet damit die beiden Lebensweisen. „Ich möchte gerne das Bewusstsein für Dinge wecken. Wir sollten alle mehr Achtsamkeit und Respekt haben, uns mehr darauf achten, wie wir etwas tun“.

Doch bei aller Liebe zu Japan ist Christine auch sehr kritisch. Die japanische Kultur ist ihr zu hierarchisch strukturiert, die Japaner zu unselbständig.

Sie meint nachdenklich, dass es vielleicht daran liegt, dass sie sensibel ist, oder dass sie als Nichtjapanerin anders denkt. Aber es fällt es ihr beispielsweise schwer zu akzeptieren, dass einzig die Beurteilung ihrer Teemeisterin darüber entscheidet, ob Christine die nächste Stufe auf dem Weg zur Teemeisterin erreicht.

„Das Wichtigste, was mich die japanische Kultur jedoch gelehrt hat, ist, dass man im Imperfekten häufig mehr erkennen kann, als im Perfekten“, fügt Christine mit einem entspannten Lächeln an.

 

 

 

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